In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Zertifizierung von Unternehmen, Produkten und Prozessen rasant ausgebreitet. Die Zertifizierung bringt zwei Vorteile: Zuerst wird in den Unternehmen ein Standard implementiert, der das aktuell führende Know-how zum beabsichtigten Entwicklungsziel beinhaltet. Durch seine Anwendung werden die betroffenen Prozesse in den Unternehmen verbessert. Dadurch werden je nach Standard, Vorteile für die Umwelt, die Produktsicherheit und -qualität, für die Lieferanten aus dem globalen Süden sowie weitere Ziele sicherer und auf effektiverem Weg erreicht. Der Autor sieht hierin den größten Nutzen aus der Zertifizierung.
Ein Zusatznutzen, der häufig als alleiniger Nutzen gesehen wird, entsteht durch die anschließende Zertifizierung. Diese hat zwei Schritte, mit jeweils eigenständigem Wert. Da ist zuerst die regelmäßige Auditierung durch externe Fachexperten. Dabei werden mögliche Defizite bei der Anwendung von Standards festgestellt und können auf dieser Basis gemindert oder beseitigt werden. So wird der Gewinn aus der Anwendung des Standards für das Unternehmen und die Gesellschaft kontinuierlich erhöht. Schließlich gibt es als letzten Schritt, bei Einhaltung aller Parameter, ein Zertifikat. Dieses ist geeignet, Dritten die zuverlässige Information zu geben, dass das zertifizierte Unternehmen oder Produkt tatsächlich die Anforderungen des Standards komplett einhält. Für Partner der Wertschöpfungskette, andere Stakeholder, z.B. Umweltverbände und Verbraucher, ist das Zertifikat und ein oft zugehöriges Logo die rasch erkennbare Kurzfassung zur Konformität mit dem Standard. Das ist ein großer Vorteil für die Kommunikation, denn die Standards sind oft umfangreich und im Detail nur Experten bekannt.
Nun kommt im Jahr im Februar 2021 ein neues Produkt auf den Zertifizierungsmarkt. Das FiBL hat einen „Managementstandard zur Umsetzung und Zertifizierung von Nachhaltigkeitsanforderungen an Unternehmensstandorten und im Lieferkettenmanagement für Unternehmen der Lebensmittelbranche“ herausgebracht (https://we-care-siegel.org). Im Internet wird dieses Projekt sofort von mehreren Stimmen als das „Neue Bio“ gefeiert. Wohl deshalb, weil das Forschungsinstitut für biologischen Landbau der Entwickler und in Verkehrbringer ist. Was ist dran?
Der Gegenstand von We care
We care ist in vier Segmente gegliedert, denen jeweils bestimmte Handlungsfelder zugeordnet sind (Abb.).
Die Projektziele
Folgende Aussagen beschreiben die Entwickler als Ziele von We Care:
Erfahrungsgemäß werden sich nicht nur Unternehmen (Wirtschaftlichkeit, Image) und Verbraucher (Gesundheit, „Rettung der Erde“) mit dem Standard befassen, sondern auch Verbraucherorganisationen, Umweltorganisationen, Landwirte, Gesundheitsexperten, Banker, Wissenschaftler, Politiker usw. Man kann gespannt sein auf die kommende, öffentliche Diskussion.
Wie zertifiziert und das Siegel vergeben wird
Der Standard enthält einen Abschnitt, in dem das Zertifizierungsverfahren ausführlich beschrieben wird. Die Festlegungen betreffen folgende Aspekte:
Diese methodischen Elemente entsprechen den Anforderungen der relevante ISO-Normen und den gegenwärtigen Üblichkeiten der Branche.
Die Worte „digital“ und „Laptop“ kommen in der Standardbeschreibung nicht vor. Wir unterstellen hier, dass auch auf diesem Gebiet das übliche Know-how angewendet werden soll. Ansonsten könnte es für den Auditor ziemlich mühsam werden, das beschriebene Verfahren zur Bewertung und Ergebnisberechnung fehlerfrei und rasch zu bearbeiten. Es ist anzunehmen, dass zwei gleichgut ausgebildete Auditoren für die identische Betriebssituation nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine sehr ähnliche oder identische Punktzahl ermitteln, was dann auch Auswirkungen auf die rechnerisch ermittelte Zertifizierungsstufe haben kann.
Das Siegel wird in der Wertschöpfungskette und vom Finalproduzenten gegenüber Verbrauchern verwendet.
Mögliche Schwerpunkte für kommende Selbstevaluierungen
Aus der praktischen Zertifizierungserfahrung fallen zwei Dinge ins Auge, die bei der Anwendung in den kommenden Jahren ihre Zweckmäßigkeit noch beweisen müssen:
Zertifizierungsstandards haben immer die methodische Schwierigkeit, einerseits nicht zu schmalspurig zu sein und andererseits für Anwender verständlich und handhabbar zu bleiben. Zur Konfliktlösung wird mittlerweile die gegenseitige Anerkennung der Kriterien und Auditergebnisse oder Kombiaudits verschiedener, spezialisierter Standards erfolgreich genutzt. Das nutzt auch We care in Ansätzen. Die Praxis wird zeigen, wie der, auf sehr breite Indikatorenvielfalt angelegte Standard von We care die Interessen von Unternehmern, Stakeholdern und der Gesellschaft befriedigt oder sogar Ordnung in den Zertifikate-Dschungel bringt.
Beispiel 1: Unternehmensgrundsätze, Kriterium 4: „Wenn wesentliche Geschäftspartner im Ausland sitzen, hat das Unternehmen seine Grundsätze und seine Haltung auch in anderen Sprachen, mindestens auf Englisch, veröffentlicht, um Geschäftspartnern Kenntnis davon zu ermöglichen.“
Kommentar: Ist die Konformität erreicht, wenn Partnern eine Möglichkeit eingeräumt wird, Grundsätze zur Kenntnis zu nehmen, oder sollte der Auditor zur Feststellung tatsächlicher Verantwortungsübernahme in der Lieferkette den Nachweis der Einhaltung der Grundsätze durch die Geschäftspartner bewerten?
Beispiel 2: Notfall- und Krisenmanagement, Kriterium 1: „Das Unternehmen hat ein dokumentiertes Verfahren für das Management von Vorfällen, Notfallsituationen und Krisen definiert, das nachhaltigkeitsbezogene Themen einschließt.“
Kommentar: Ist Konformität erreicht, wenn ein Papier vorliegt, das für den Grundwasserschutz und die Luftreinhaltung einige Maßnahmen beschreibt? Sollte nicht besser bewertet werden, ob dieses Papier von den Mitarbeitern verstanden wird und ob die Maßnahmen gelegentlich trainiert und ausgewertet werden?
Die beiden Beispiele stehen für die durchgehende Methodik wie bei We care die Kriterien definiert werden. Zur Handhabbarkeit solcher Kombi-Kriterien gibt es in der Zertifizierungspraxis die Erfahrung, dass die Konformität oft nicht eindeutig bewertbar ist, weil deren Erscheinungsbild durch eine Reihe einzelner Unterfaktoren bestimmt wird. Es kommt dann zu solchen unbrauchbaren Vorgehensweisen wie „zu 30% konform“ oder „zu 75 % konform“, die eine eineindeutige, objektive und gültige Konformitätsbewertung für das Unternehmen nach den zugrunde liegenden ISO-Standards (u.a. ISO 19011, ISO 17000, ISO 17021), ausschließt. Dazu kommt, dass es in der qualifizierten Zertifizierungspraxis nicht ausreicht, allein „konform“ oder „nicht konform“ festzustellen und zu dokumentieren. Vom Auditor sollte im Auditbericht durch ein Merkwort oder eine kurze Wortgruppe festgehalten werden, warum er mit „konform“ oder „nicht konform“ bewertete. Ansonsten ist sein Bericht durch den Bewerter und/oder Zertifizierer gar nicht inhaltlich verständlich. Der Bericht wäre auch bei einer späteren Streitfrage zum Sachverhalt nicht verwertbar. Der Standard regelt nicht ob/wie dokumentiert wird, warum der Auditor das dokumentierte Bewertungsergebnis für die sehr komplexen Indikatoren (siehe obenstehende Beispiele) feststellte.
Wir wünschen den Entwicklern Glück und Erfolg
Der Wille der Entwickler einen großen Wurf zu machen ist deutlich erkennbar. Damit schließt der Standard eine existierende Lücke im Zertifizierungsmarkt für Lebensmittel. Für den erfolgreichen Markteintritt wünschen wir den Entwicklern von We care Erfolg und Glück.
[1] Zur Übersichtlichkeit werden hier die ISO-Standards nach aufsteigender Nummer und die Zertifizierungsprogramme nach aufsteigendem Alphabet geordnet. Diese Reihenfolge entspricht nicht der Rangordnung nach fachlicher Relevanz für das behandelte Thema.
[2] Diese beiden Aspekte sind bei We care nicht als Handlungsfelder benannt. Allein unter dem Aspekt der Vermeidung von Abfall von Chargen, die verworfen werden müssen, könnte die Berücksichtigung dieser Aspekte im Nachhaltigkeitsstandard für Lebensmittel sinnvoll sein.
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